Putschversuch in der Türkei

Veröffentlicht: Juli 16, 2016 in Politik
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Am Freitag, dem 15. Juli, hat ein Putschversuch in der Türkei gegen das Regime von Recep Tayyip Erdoğan stattgefunden. Er ist mit einer erheblichen Zahl von Toten und Verletzten (265 Tote und 1140 Verletzte laut Heute Journal) offenkundig gescheitert. Drei ranghohe Generäle und hunderte Offiziere und Soldaten sowie ein hochrangiger Richter am Obersten Gericht sind bereits festgenommen worden. In Rede steht die Wiedereinführung der Todesstrafe.

Auf den ersten Blick scheint Erdogan in der Türkei stärker dazustehen als je zuvor. Manch einen verführt dies dazu zu glauben, er hätte selbst den Putsch inszeniert, was bei genauem Hinsehen der reine Unfug ist.

Die Türkei ist seit 1952 NATO-Mitglied, was schwere Konflikte mit dem NATO-Mitglied Griechenland nicht verhinderte. Im Land leben laut Wikipedia 70 bis 77 % ethnische Türken, 14 bis 18 % Kurden, 4 % Zaza, 2 % Tscherkessen, 2 % Bosniaken, 1,5 % Araber, 1 % Albaner, 1 % Lasen, 0,1 % Georgier sowie diverse andere ethnische Gruppen und Nationalitäten wie Armenier/Hemşinli, sowie Bulgaren/Pomaken, Aramäer, Tschetschenen, Griechen/Pontier, Juden und Roma. Besonders das Verhältnis zu den Kurden ist belastet.

Der Staat ist ist seit seiner Gründung im Jahr 1923 laizistisch und kemalistisch orientiert, wofür besonders die Streikräfte stehen. Diese haben bisher eifersüchtig über diese Grundorientierung gewacht. 1960 putschte das Militär gegen den islamistisch orientierten Adnan Menderes und sein Ermächtigungsgesetz. Er wurde zum Tode verurteilt. Im September 1980 putschte das Militär erneut. Es wurde auch massiv gegen Linke vorgegangen. Das Militär hat enge Bindungen an die USA.

Erdogan war seit März 2003 Ministerpräsident, seit August 2014 ist er Präsident. Mit seiner Partei Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) verfolgt er einen zunehmend islamistischen Kurs, ungeachtet der Beitrittsverhandlungen mit der EU. Erdogans Regierung hat den IS unterstützt, um Assads Regierung in Syrien zu stürzen. Die Türkei hat enge Beziehungen zu Israel, zwischenzeitlich getrübt vom Vorfall Ship-to-Gaza-Zwischenfall. Nach einer Entschuldigung von Benjamin Netanjahu bei der Türkei sind die Beziehungen wieder entspannt. Mit Saudi-Arabien pflegt die Türkei gute und intensive Beziehungen. Zu Russland sind die Beziehungen seit dem deutlicheren Eintreten Russlands für die Souveränität Syriens und insbesondere seit dem Abschuss des russischen Kampfflugzeugs im November 2015 sehr angespannt gewesen – trotz recht enger wirtschaftlicher Beziehungen. Erdogan hat sich aber kürzlich bei Russland hierfür entschuldigt und versucht, sich Russland wieder anzunähern. Es heißt sogar, er wolle das Verhältnis zu Syrien wieder normalisieren, woran russischer Einfluss beteiligt sein mag.

Warum der Putsch jetzt?

Seit Langem steht die Politik Erdogans in heftigem Widerspruch zur Kemalistischen Grundausrichtung des Staates und insbeondere des türkischen Militärs . Allerdings gab es schon 2011 eine Anklage wegen angeblichen Putschvorbereitungen:

http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/633510/Turkei_Haftbefehle-gegen-162-ehemalige-Militaers

Ich bin lange verwundert gewesen, dass das Türkische Militär diese Entwicklung „mitgespielt“ hat. Die Erklärung liegt m. E. darin, dass die US-Machtelite seit Langem auf islamistische Kräfte setzt, um den Nahen und Mittleren Osten insgesamt von einer säkularen, fortschrittlich-nationalistischen Entwicklung unter Nutzung der eigenen Ressourcen abzuhalten. Bei diesem Prozess war die türkische Politik „hilfreich“. Offenbar hat hier US-Einfluss auf das türkische Militär den Widerstand gegen diese Entwicklung verhindert.

Da erhebt sich die Frage, warum jetzt?

Keineswegs scheint es so, dass der Putsch nur einen kleinen Teil des Militärs betroffen hätte. Wäre das so gewesen, wäre es zu Kämpfen zwischen Militäreinheiten gekommen, wovon absolut nichts berichtet wurde. Eindeutig war der Putsch nur mangelhaft vorbereitet, die Besetzung von Sendern nur unvollkommen. Die Unterstützung von Oppositionsparteien ist ausgeblieben, was für eine deutliche Informationslücke oder Desinformation spricht.

Es bleibt nichts anderes übrig, als eine Ursache auch in der US-Politik zu sehen. Nicht umsonst beschuldigt übrigens die türkische Regierung den in den USA im Exil lebenden prominenten Prediger Fethullah Gülen, den Putsch angezettelt zu haben. Warum aber könnte die US-Machtelite ein Interesse an diesem Putsch gehabt haben und wieso hat der dann nicht funktioniert, wird man sich da fragen. Dazu muss man das komplexe Vorgehen der US-Politik verstehen. Verbündete und Vasallen der USA können sich keineswegs der dauerhaften oder uneingeschränkten Unterstützung der USA sicher sein, was auch schon viele Staatsführer solcher Staaten erfahren mussten, so zum Beispiel der Schah von Persien, als er in zu großer Eigenständigkeit die Modernisierung und Entwicklung zu Regionalmacht vorantrieb.

Erdogan hat zwar für die USA die Zerstörung Syriens mit betrieben (was sich ändern könnte), aber strebt doch recht eigenständig die Stellung der Regionalmacht im Vorderen Orient an. Außerdem will die Türkei den Beitritt in die von China organiserte Asiatische Infrastrukturinvestmentbank (Asian Ifrastructure Investment Bank, AIIB), die auch der Weltbank Konkurrenz machen soll und für das Projekt „Eiserne Seidenstraße steht. Der Betritt zu diesem Projekt hat auch das Vereinigte Königreich in den USA einige Sympathien gekostet.

Im türkischen Militär hat es also nun schon eine Weile gebrodelt, es gibt sicher auch viel Empörung darüber, dass Erdogan den militanten Extremisten des IS und Konsorten so viel Spielraum gegeben hat, was sicher nicht ohne Zusammenhang zu den jüngsten Anschlägen gewesen ist. Wie wäre es, wenn man den aufmüpfigen Kräften seitens der US-Geheimdienste Unterstützung signalisiert hätte, sie ermutigt und gleichzeitig mit Fehlinformationen gefüttert hätte? An einem wirklichen Sturz Erdogans haben die USA wohl kein Interesse. Mit diesem gescheiterten Coup hätte man ihm die Möglichkeit gegeben, sich im Innern stark zu präsentieren, regional aber sind ihm „die Flügel erheblich gestutzt“. Als Führer einer wirklichen Regionalmacht kann man kaum jemanden ansehen, der sich offenbar auf große Teile seines Militärs nicht verlassen kann! Und „Strafe für die AIIB muss sein“, wohl auch für die Wiederannäherung an Russland.

Und, bitte, dass die Sache viele Leben gekostet hat, dass man den USA sehr verbundene Militärs geopfert haben könnte, wen in der US-Machtelite würde das nach „Nine Eleven“ noch in irgendeiner Weise quälen?!

Andreas Schlüter

Weiter Links:

http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-07/tuerkei-militaer-putsch-binali-yildirim

https://nocheinparteibuch.wordpress.com/2016/07/16/zum-putsch-in-der-tuerkei/

http://www.rationalgalerie.de/home/tuerkei-putsch-nicht-ohne-usa.html

http://www.heise.de/tp/artikel/46/46702/1.html

https://deutsch.rt.com/russland/36810-russlands-aussenministerium–turkei-unterstutzt/

http://www.spiegel.de/politik/ausland/isis-im-irak-wie-sich-die-tuerkei-bei-der-terrorgruppe-verschaetzte-a-975032.html

http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/633510/Turkei_Haftbefehle-gegen-162-ehemalige-Militaers

https://de.wikipedia.org/wiki/Au%C3%9Fenpolitik_der_T%C3%BCrkei

http://derstandard.at/2000041204254/Die-Guelen-Bewegung-in-der-Tuerkei

http://www.heise.de/tp/news/Neue-Bank-USA-zunehmend-isoliert-2587030.html

http://www.handelsblatt.com/unternehmen/mittelstand/wachstumsmaerkte/asian-infrastructure-investment-bank-die-aiib-ist-zu-einem-prestigeprojekt-der-chinesen-geworden/11619094-2.html

https://wipokuli.wordpress.com/2016/06/24/breaking-news-great-britain-the-united-kingdom-out-der-knall-die-briten-das-vereinigte-koenigreich-draussen/

https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnstrecke_Kars%E2%80%93Achalkalaki%E2%80%93Tiflis%E2%80%93Baku

http://www.tageswoche.ch/de/2013_27/international/557492/erdogan-legt-dem-militaer-zuegel-an.htm

Kommentare
  1. […] zwischen der Türkei und der EU infrage kommt, liegt auf der Hand. So hat der gescheiterte Putschversuch in der Türkei (der vielleicht aus US-Sicht gar nicht glücken sollte) eine Welle der Repression in […]

  2. Beat sagt:

    Eine konzentrierte, hervorragende Analyse!

    Gemäss meinen bescheidenen Kenntnissen der türkischen Geschichte und Literatur (keine Universitätsausbildung) spielte und spielt auch Deutschland in der Türkei eine gewisse, möglicherweise nicht unwesentliche, Rolle.

    • Schlüter sagt:

      Vielen Dank für die ermutigenden Worte! Übrigens ist eine Universitätsausbildung alles andere als eine Garantie für richtige Analysen. Ich habe schon viele studierte Leute erlebt, bei denen es mir vorkam, als hätten sie im Tausch für Diplom oder Promotion ihre grauen Zellen abgegeben!
      Und die Aussage, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei – guten wie im Schlechten – eine wichtige Rolle spielen, ist absolut zutreffend. In dieser Angelegenheit dürfte aber die treibende Kraft der berühmte „Große Bruder“ gespielt haben.
      Einen schönen Sonntag und freundliche Grüße
      Andreas Schlüter

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